Night Vale ist keine gewöhnliche Stadt. Dort gibt es Bibliothekare, die Bibliotheksbesucher in blutige Fetzen reißen und einen Stadtrat, dem ein jährliches Menschenopfer gebracht werden muss. Eine lila Wolke beherrscht Gedanken, und alle Engel, die bei der Gartenarbeit helfen, heissen Erika. Diese und weitere Absurditäten liest man häufig, wenn man sich über das neu erschienene Klett-Cotta Buch „Willkommen in Night Vale“ informieren will, und deswegen ist es irgendwie erstaunlich und befremdlich, wie nett Joseph Fink und Jeffrey Cranor, die Autoren dieses verrückten Buches, tatsächlich sind. Einfach nett. Und so normal.
Am 24.05. veranstaltete die Stadtbibliothek Stuttgart in Kooperation mit den Dragon Days eine Lesung der dritten Art von „Willkommen in NIght Vale“. Nicht nur Jeffrey Cranor und Joseph Fink waren da und verzauberten das Publikum, auch Starstimme Andres Fröhlich, der aus der deutschen Version las, und Denis Scheck, der gefeierte Literaturkritiker, moderierte den Abend. Vor einem vollen Saal gaben sich diese vier locker und entspannt, lustig und sympathisch. Das Fehlen von Exzentrik könnte fast schon verstörend sein, würden Cranor und Fink nicht besonders durch ihre sympathische Intellektualität auffallen: Gelockt von Denis Scheck erzählten sie von ihrer Zeit bei verschiedenen experimentellen Theatergruppen in New York und ihren ersten Erfahrungen mit dem Medium Radio. Mit viel Witz und Charme erklärten sie unter anderem, dass „Welcome to Night Vale“, der Podcast der schon seit Jahren erfolgreich läuft, die Form einer Radioshow angenommen hat, um Zeiteinschränkungen zu umgehen und subjektive Wahrnehmung beschreiben zu können. Hört sich bekannt an? Genau: In Night Vale funktionieren die Uhren nicht und Cecil, der Sprecher des Podcasts, behält trotz angeblicher Nachrichten-Funktion immer die Macht über Informationen. Cecil, die Stimme von Night Vale, erklang gestern zum ersten Mal in deutscher Sprache. Viel Erwartungen hafteten auf Andreas Fröhlich, der das Ganze mit gewohnter Bravour meisterte. Abwechselnd schüttelten die Zuhörer entweder die Köpfe ob der Absurditäten, oder gleich sich selbst vor Lachen. Langweilig wurde es ganz sicher nie.
Was gibt es noch zu sagen über Night Vale? Night Vale ist nicht wie andere Städte. Night Vale ist absurd. Night Vale ist... gar nicht so abwegig, eigentlich, wenn man Cranor und Fink zuhört. Denn Night Vale funktioniert in Metaphern: Bibliothekare verfügen über die Macht der Informationen und damit über unser Verständnis von Wirklichkeit. Sie entscheiden tatsächlich über das Leben, das ist nicht absurd. Josh, ein wichtiger Charakter aus dem Buch, ist ein Teenager und ein Gestaltwandler. Sein Gesicht, seine Mimik, seine Stimme, seine Meinungen gleichen niemals denen des Tages zuvor – „Ein starkes Bild für einen Teenager von heute“, nannte es Denis Scheck. Das ist auch nicht absurd. Night Vale ist vor allem konsequent: Fink und Cranor erklärten, dass die eine Gesetzmäßigkeit der Stadt darin besteht, dass wahr bleibt, was einmal wahr war. Die Idee, dass Bibliothekare furchterregend sind, oder dass Uhren nicht funktionieren, muss in jeder Geschichte um Night Vale bestehen bleiben… und das ist überhaupt nicht absurd, bedenken wir, dass wir genauso davon ausgehen, dass die Wahrheiten von heute auch die von morgen sind. Night Vale ist also doch wie andere Städte! Das Ganze wird noch unheimlicher, wenn Cranor von der Denver Airport Conspiracy erzählt: in Denver wurde ein Flughafen erbaut, obwohl der alte funktionierte. Mit Unmengen von Geld, von dem niemand weiss woher es kommt. Mit Untergrundkanälen und Hallen, die niemand braucht, und einer unheimlichen Pferdestatue, die Menschen erschlägt. Das könnte glatt aus dem Buch stammen… Night Vale ist ein bisschen wie Denver. Wenn man jetzt aus einer Stadt kommt, deren Wappen ein Pferd ziert und in der ein Bahnhof unterirdisch neugebaut wird, obwohl der alte funktioniert und niemand weiss, woher bitte dieses Geld kommen soll, hört sich das gar nicht abwegig an. Night Vale ist wie Denver ist wie Stuttgart. Wenn man jetzt noch daran glaubt, dass die Realität morgen aussieht wie heute, wird es Zeit sich hinzulegen und die Decke über den Kopf zu ziehen.
- Geschrieben von Dominique