Tag 5: Otherland – 3 Visionen aus der Zukunft

Passend zu den Visionen für eine Zukunft der virtuellen Realität hat die Diskussionsrunde am 24.10.2020 nicht nur im Literaturhaus Stuttgart stattgefunden, sondern konnte auch live auf YouTube mitverfolgt werden.

Den Anfang machte die Moderatorin des Abends, Eva Wolfangel, die als Wissenschaftsjournalistin und VR-Reporterin tätig ist. Sie berichtete von ihren ersten Erfahrungen mit dem Thema virtuelle Realität und was die Arbeit einer VR-Reporterin eigentlich ausmacht. Am Anfang war Eva noch skeptisch und hat die Thematik noch hauptsächlich mit Computerspielen in Verbindung gebracht, doch ihr wird schnell klar, dass die Möglichkeiten der VR weit über das hinausgehen. So kann man im Gegensatz zu Online-Konferenzen auch einzelnen Personen etwas zuflüstern, Menschen aus aller Welt in „einem Raum“ treffen und sogar weit entfernte Freunde umarmen – zwar ist die Technik noch nicht so weit, dass auch das Gefühl einer Umarmung übertragen werden kann, aber diese Lücken schließt das eigene Gehirn von selbst, so Eva. Schnell kommt sie zu der Erkenntnis, dass auch Journalisten die virtuellen Realität nutzen sollten und beginnt ein wissenschaftliches Projekt am MIT der Universität in Cambridge. Doch viele der Ergebnisse fallen leider noch sehr „langweilig“ aus, da man das echte Leben zu sehr nachahmt, statt die besonderen Möglichkeiten der VR auszunutzen. Ein Ah-ha Erlebnis folgt dann bei der diesjährigen VR-Konferenz, die aufgrund der Corona-Situation in Amerika erstmals wirklich in der VR abgehalten wurde. Besonders beeindruckt war Eva von den erfolgreichen Postersessions. Es war den Teilnehmern möglich, von Poster zu Poster „zu laufen“, diese durchzulesen, mit umstehenden Personen ins Gespräch zu kommen und sich für Diskussionen in eine Ecke des Raums zu setzten. Während der weiteren Zusammenarbeit mit dem MIT wurde dann ein Lab aufgebaut, das abstrakte Themen wie die Quantenphysik mit der VR zusammenbringt. Bei einem virtuellen Event können hier abstrakte physische Sachverhalte wie die Verschränkung anschaulich erklärt werden. Eine kurze Reise von der Erde, wo das Event stattgefunden hat, zum Mars, zeigt den Teilnehmern, dass Verschränkungen auch auf lange Distanzen bestehen bleiben. Ein Blick in den „verschlossenen“ Karton macht es einfacher, das Phänomen von Schröddingers Katze nachzuvollziehen. Das einzige Problem – ab und zu ist ein Teilnehmer vom virtuellen Planeten abgestürzt, weil es zu eng wurde. Trotzdem steht für Eva Wolfangel fest, dass in dieser Art von Veranstaltungen und Forschung ein großes Potenzial für die Zukunft steckt.

Der nächste Gast war ein für die DragonDays, bekanntes Gesicht. Benjamin Rudolf von der Firma Nau Hau. Zuerst erfuhren die Zuschauer von aktuellen Trends im Bereich VR, die sich momentan weg von Controllern hin zu Spielen beziehungsweise Programmen bewegt, die direkt die Bewegungen der eigenen Hände tracken können. Außerdem teilte Benjamin seine Ansichten zum Begriff „Digitalisierung“ mit dem Publikum, der für ihn so ein gewisses Geschmäckle mit sich bringt. Denn dieser Begriff sei mittlerweile mit sehr vielen negativen Bildern verknüpft. Er schlug vor, stattdessen den Begriff „Virtualisierung“ zu etablieren, der helfen soll, das Mindset der Bevölkerung zu „fixen“ und Möglichkeiten der Technik, in deren Zentrum der Mensch steht, zu erkennen. Der Entwickler sieht die VR auch als Lernmöglichkeit für Künstliche Intelligenzen. Eine Art simulierte Spielwiese, auf der die KIs Freilauf haben und erprobt werden können, bevor sie Anwendung in der Realität finden. Doch in diesem Zusammenhang sollte nicht immer nur dystopisch gedacht werden. Natürlich gibt es große Konzerne, die von diesen Entwicklungen werden profitieren wollen. So kann Google sich mittlerweile Street-View Autos sparen, weil so viele Kinder draußen mit aktivierter Handykamera herumrennen, um Pokémons zu fangen, berichtet Benjamin. Aber die VR bringt eben auch unendliche Vorteile mit sich. Zum Beispiel könnte es in Zukunft möglich sein, den Handwerker schnell und günstig mit ins eigene Bad dazu zu schalten, eine Ferndiagnose zu erhalten und die Reparaturen am Waschbecken selbst durchzuführen. Benjamin gab dem Publikum den Gedanken mit auf den Weg, dass er von einer Welt träumt, in der die Technik nur dazu da ist, damit der Mensch die Natur genießen kann.

Dann war der Star des Abends, Tad Williams, an der Reihe. Der Autor wurde live aus Amerika per Videocall zugeschalteten und berichtete von seinen ersten Berührungspunkten mit der Thematik, noch bevor er überhaupt seine bekannte Buchreihe „Otherland“ verfasst hatte. Er erzählte von seiner Arbeit bei Apple Computers in den 80er mit seinem Freund Andrew Harris. Die zwei arbeiteten für die „technical information library“ und bearbeiteten Nutzeranfragen und kamen schon in diesem Zusammenhang auf den Gedanken, wie hilfreich visuelle Repräsentationen für ihre Arbeit wären. Tad berichtete außerdem fasziniert von ersten Face-to-Face, VR-ähnlichen Talks. Dort wurden die Avatare damals noch durch Polygone dargestellt. Die virtuelle Umgebung wurde zum Beispiel durch Versteckspiele getestet, die schnell zeigen, dass die Testspieler auf die verstecktesten Ideen kommen. Tad beschrieb, dass ein sehr beliebtes Versteck der Avatar des Gegenübers war, denn wer kommt schon auf die Idee, im „eigenen Körper“ zu suchen? So etwas sind wir aus der Realität einfach nicht gewöhnt. In diesem Zusammenhang teilte der Autor ein sehr spannendes Zitat seines Freundes Andrew Harris mit dem Publikum: „The most unpredictable thing in VR is not the technology. It‘s always going to be the people and their interactions […] they will always be complicated if you want them to be or not“. So war Tad auch davon überzeugt, dass auch wenn in Zukunft Kinobesuche oder Shopping-Ausflüge in die virtuelle Realität verlagert werden, die Interaktion mit anderem Menschen ein zentrales Thema sein wird. Denn wie der Autor sagte: „We love new stuff, if it embraces our humanity“.
Außerdem erfährt das Publikum, dass viele Ideen,an denen man auch noch heute arbeitet, auch damals schon gedacht wurden. Allerdings war vieles zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht umsetzbar. So kam Tad dann auch auf die Idee, eine Welt zu erfinden, in der all diese Dinge schon möglich sind – und das erste Otherland Buch war geboren.
Ein weiteres Projekt, an dem Tad damals mit seinem Freund gearbeitet hat, war eine Talkshow. Dort konnten die Zuschauer anrufen und in die Rolle von Charakteren beziehungsweise Bilder schlüpfen, auf die ihre eigenen Sprechbewegungen animiert wurden. Da es in den 90ern noch keine entsprechende Software gab, haben sich Tad und Andrew an den billigsten Motivtelefonen auf dem Markt bedient. Die Skelette diese Hundetelefone haben die beiden auf ein großes Regal gestellt und dann bei Anrufen die Bewegung von Mund und Augenäpfel abgefilmt, die dann auf die entsprechenden Bilder animiert wurden.

Im Anschluss wurde die Runde für Fragen aus dem Publikum und aus dem Livestream geöffnet. Eine Frage betraf die Notwendigkeit von Facial Expressions für Avataren in der VR, da diese noch oftmals zu Missverständnissen und Problemen führen. Eva war davon überzeugt, dass die eigene Stimme oft ausreicht, um Emotionen und Gefühle zu vermitteln. Auch Tad stimmte ihr zu, so etwas habe der Mensch sich ja schon über Jahre hinweg zum Beispiel auch beim Telefonieren angeeignet. Doch der Autor ist überzeugt, dass dieses Gebiet auf jeden Fall weiterhin erforscht werden wird. Denn alle Bereiche, die noch die Chance auf ein Verbesserungspotenzial aufzeigen, wird früher oder später jemand aufgreifen, um daraus Gewinn zu machen. Wir leben nun mal in einer sehr kapitalistischen Gesellschaft.
In einigen weiteren Fragen schwingt dagegen Besorgnis mit. Was wenn die VR der Realität irgendwann so ähnlich ist, dass man sie nicht mehr von einander unterscheiden kann? Könnte das Medium dann nicht sehr leicht missbraucht werden, um falsche Identitäten vorzutäuschen? Benjamin äußerte die Idee, Abzeichen für lobenswertes Verhalten zu verteilen. Tad war der Meinung, dass Entwicklungen auf diesem Bereich sehr schwer vorherzusehen und einzuschätzen sind. Denn wie er zu Beginn schon erwähnt hatte, ist der Mensch und seine Interaktion mit der VR einfach zu komplex. Doch ihm ist es wichtig, dass vor allem die vielen Möglichkeiten von VR abgewogen werden. Die VR könnte es manchen Menschen ermöglichen, das erste Mal in ihrem Leben ein Einkaufszentrum oder ein Musikfestival zu besuchen. Dann meinte der Autor schmunzelnd, während wir uns heute noch Gedanken über den Missbrauch der VR und die Gefahren von KIs machen, wird es irgendwann vielleicht einen Zeitpunkt geben, an dem die Maschinen zu uns sagen: „Das ist aber nicht fair – wir wollen auch wie Menschen behandelt werden!“
Auf die Frage, welche Projekte der Autor im Bereich Science-Fiction geplant hat und ob er jemals eine Dystopie schrieben wird, antwortet Tad, dass er auch weiterhin an Science-Fiction Projekten arbeiten wird, aber wohl nie an Dystopien. Dafür sei er einfach nicht der Typ. Denn er wolle seinen Lesern viel eher Hoffnung vermittel – für die Charaktere in seinen Büchern und auch für uns als „Charaktere“ in der realen Welt. Und vielleicht wird es in Zukunft ja auch noch mehr von Otherland geben.

Geschrieben von Kim H.