Dezember-Quest zum Hort der Drachen

(Der etwas andere Betriebsausflug)

Am 12. Dezember 2017 zogen neun Phantasten von Stuttgart aus los, um den „Schwäbischen Lindwurm“ in sein neues Heim nach Wetzlar zu geleiten. Auf den Stuttgarter Dragon Days war die Phantastische Bibliothek Wetzlar mit diesem begehrten Phantastik-Preis ausgezeichnet worden, jetzt mussten wir den grüngoldenen Bronzedrachen nur noch an seinen rechtmäßigen Platz bringen. Weich gebettet im Koffer von Tobias Wengert von den Dragon Days reiste der Lindwurm mit seinem Meister incognito, aber mit Zug-Gruppenticket. Mit von der Partie waren außerdem die Autoren Thomas Thiemeyer und Marcus Hammerschmitt, die Autorinnen Bärbel Oftring, Susanne Rauchhaus und Nina Blazon sowie Felicitas Buder (Dragon Days), Sabine Fecke (Lese-Agentur Fecke) und Irena Brauneisen. In der Bibliothek erwartete uns nicht nur ein Kaffeekränzchen mit Drachen, sondern auch chinesisches Essen, eine Tour durch das Perry-Rhodan-Universum und die Einführung in das Projekt „Future Life“. Nach fünf Stunden mit Bibliotheksführung, der feierlichen Übergabe des Preises, Expeditionen ins Drachenreich und in die Horror-Abteilung war unsere Mission zur Begeisterung aller Beteiligten erfolgreich erfüllt.

 

Ein Lindwurm für die Drachen-Bibliothek

Natürlich kann man in einer Laudatio Fakten und Superlative aufzählen. Angefangen bei der Tatsache, dass die Phantastische Bibliothek in Wetzlar die größte öffentliche Bibliothek für Science-Fiction- und Fantasy-Literatur weltweit ist. Man könnte die magische Zahl 286.000 in Spiel bringen, was der ungefähren Zahl an Werken aus der Phantastik, Fantasy, Science Fiction, Märchen, Horror- und Abenteuerliteratur entspricht, die dort in den Regalen stehen. Kurios die Tatsache, dass das größte Buch in dieser Bibliothek zweieinhalb mal zwei Meter groß ist und das kleinste Werk gerade mal dreieinhalb Zentimeter misst. Und wenn man alle Projekte aus Leseförderung und Forschung, alle Fachartikel und Publikationen aufzählen wollte, die in dieser Bibliothek entstehen, würde es Stunden dauern. Aber Zahlen machen diese besondere Bibliothek ohnehin in keinster Weise erlebbar. Dafür muss man schon hineingehen!

 

Steht man vor dem Bibliotheksgebäude, sieht man eine hübsche, nicht besonders auffällige Villa aus den fünfziger Jahren, die – nun ja – von einem großen Fassadendrachen bewacht wird.

 

Aber sobald man Drache und Tür passiert hat, ist es, als wäre man in der Telefonzelle von Dr. Who gelandet! Wie in dieser getarnten Raumstation findet man sich plötzlich in einem phantastischen und äußerst weitläufigen Kosmos von Welten und Zeiten wieder. Man landet zum Beispiel in einem märchenhaft ausgestatteten Dornröschenschloss, wo man in einer Sammlung von Märchen aus aller Welt schmökern kann. Ritter und Gespenster leisten kleinen Lesern in der Kinderbuchabteilung Gesellschaft, unzählige Drachen tummeln sich hier und auch ein blaues Drachenei wird dort ausgebrütet. Echter Knoblauch hängt an den Regalen und warnt vor den literarischen Vampiren, die in einer extra-Abteilung auf Opfer warten.

 

Eine Treppe tiefer, im Untergrund, kann man sich durch Jahrhunderte von Horrorliteratur tasten. An manchen Türen muss sich unter Spinnweben hinwegducken und – das ist nicht metaphorisch gemeint! – an Monstern vorbeischleichen, um in Lovecrafts, Wolfgang Hohlbeins und Stephen Kings unheimliche Welten vorzustoßen.

 

Es sind mit viel Liebe zum Detail eingerichtete literarische Themen- und Erlebnisräume, kleine Holodecks, die Thomas Le Blanc und sein Team hier geschaffen haben. Aber die Phantastische Bibliothek ist viel mehr als ein perfekt arrangiertes Leseumfeld. Sie ist auch eine Zeitmaschine und ein Weltengenerator. Und das merkt man nicht nur, wenn man durch das silberne Büchertor der Science-Fiction-Abteilung tritt und beim Perry-Rhodan-Lesethron landet. Es ist keine Bibliothek der vergänglichen Art, man sortiert hier nicht schnell aus nach schnellen Trends, auf eine Weise ist es auch ein zeitloser Ort. Hier findet man wirklich auch den raresten Klassiker und den kuriosesten Band an Sekundärliteratur, der weltweit längst vergriffen ist.

 

Erdacht und erschaffen wurde dieser Hort der Phantastik in all ihren Lesarten von einem Enthusiasten, der die seltene Gabe besitzt, ein Weltenerschaffer zu sein. Nicht nur auf dem Papier, wie wir Autoren es gerne sind, sondern mit hochgekrempelten Hemdsärmeln, Leidenschaft und viel Begeisterung. Thomas Le Blanc, der heute hier ist, wurde anfangs sicher als Idealist belächelt, als er mit abenteuerlichen Methoden um phantastische Nachlassbibliotheken feilschte und à la Indiana Jones seltene Artefakte aus den Katakomben verstaubter Archive rettete. In wenigen Jahrzehnten hat er auf diese mit seinem Team aus ein paar Regalen voller Science-Fiction-Bände ein ganzes Universum geschaffen, ein Heim für Ideen und große Träume. Er ist zudem Herausgeber und Autor, Mäzen und Manager – und er sorgt dafür, dass Klassiker der Weltliteratur wie Karl Mays Werke auch in heutiger Zeit weitergeschrieben werden.

 

Und er hat eine Mannschaft zusammengetrommelt, die ebenso schöpferisch und unerschrocken ist wie er und jeden Tag aufs Neue zeigt, dass Fantasy und Phantastik keine Hirngespinste, sondern unverzichtbarer Teil unserer Welt sind. Illustrieren sie doch, dass jede Wirklichkeit ihren Ursprung erst einmal in manchmal sehr schrägen Ideen und abwegigen Gedanken haben kann.

 

Solchen Ideen spürt zum Beispiel Klaudia Seibel nach. Ich weiß nicht, ob sie nachts von elektrischen Schafen träumt, aber im Rahmen des Projekts „Future Life“ liest diese Zukunftsforscherin Konzepte und Möglichkeiten für unser künftiges Leben und Arbeiten aus den Werken großer Science-Fiction-Schriftsteller heraus. Und globale Versicherungen, Energie- und Kommunikationsunternehmen und Chemie- und Autokonzerne greifen gerne auf diesen Think Tank der Phantastischen Bibliothek zurück.

 

Maren Bonacker bringt nicht nur Kinder und Jugendliche zum Lesen und entfesselt deren Phantasie wie keine andere, sondern ist auch als Wissenschaftlerin in der Kinder- und Jugendliteraturforschung aktiv. Sie ist Fachjournalistin, Kritikerin, Autorin und Referentin und fungiert in der Bibliothek zudem als offizielle Drachenbeauftragte, was, wie Sie gleich sehen werden, kein ungefährlicher Job ist.

 

Wäre die Phantastische Bibliothek die USS Enterprise unter Captain Picard, dann wäre Bettina Twrsnick Counsellor Deanna Troy. Sie ist es, die empathisch Welten verbindet, was nicht nur bedeutet, dass sie für alle pädagogischen Fragen zuständig ist, phantastische Lese- und Literaturpädagogik für Schulen entwickelt, sondern auch, dass sie utopische Visionen einer besseren Welt wahr werden lässt, indem sie die Bibliothek auch zu einem Ort für Lernende macht, die als Geflüchtete nach Wetzlar kamen und in den Hallen ihre neue Sprache erlernen.

 

Das alles zeigt, wie ich finde, die besondere Magie dieser Bibliothek: Sie schafft Verbindungen zwischen Gestern und Morgen, sie webt mit zahlreichen innovativen Projekten an der Zukunft mit. Sie ist Sammlerin, Bewahrerin, eine Heimat für Visionäre und solche, die es sicher einmal werden. Sie spiegelt genau das, was phantastische Literatur ausmacht: Sie zündet Ideen, sie manifestiert neue Räume, erst in den Köpfen und dann irgendwann auch in der Wirklichkeit.

 

Auch für uns Autoren ist diese Bibliothek eine Heimat geworden, sie ist Michael Endes Phantásien und Stephen Kings Hotel aus Shining, sie ist Märchenwald und Karl Mays abenteuerliche Wüste, sie ist Jules Vernes „Nautilus“ und – ja, es muss noch einmal gesagt werden – das weltweit größte und einzige Drachenreservat.

 

Und ich freue mich ganz besonders, dass diese Bibliothek für alles, was sie ist und noch sein wird, heute mit dem Schwäbischen Lindwurm ausgezeichnet wird. Lieber Thomas Le Blanc, ich hoffe sehr, dass dieser besondere Preis eine Ermutigung für euch ist, auf bewährte magische Weise weiterzuwachsen, in dieser Art, die ihr so gut beherrscht: Aus Gedanken und Ideen neue Welten und Wirklichkeiten entstehen zu lassen.

Nina Blazon, Oktober 2017