Joe Abercrombie

Preisträger des Schwäbischen Lindwurms 2015

Jurybegründung

Die Fantastik tut sich schwer in der Literatur – wobei sich eigentlich die Literatur schwer mit der Fantastik tut. Geschichten von fantastischen Welten, Einfluss allmächtiger Götter auf das Leben, Verwandlungen in andere Wesen oder Märchen haben keinen Platz in der hohen Literatur.
Sofern man bei „fantastische Welten“ die Reise von Dante Alighieri in der Göttlichen Komödie nicht mitzählt, die Gespräche von Faust mit Mephistopheles als Einfluss allmächtiger Götter außer Acht lässt, Gregor Samsas Verwandlung in Ungeziefergänzlich ignoriert und E.T.A. Hoffmanns Sandmann als nette Kindererzählung abtut.
Kann eine Genreschublade über den Wert einer Erzählung bestimmen? Ist die Existenz fantastischer Elemente ein Maß für die Trivialität eines Buches?
Wenn im Nachwort der Reclam-Ausgabe des Sandmanns zur Deutungsmöglichkeiten des Textes der Autor feststellt: „ …, dass die Zahl der Deutungen in den letzten Jahren ein derartiges Ausmaß erreicht hat, dass die Interpretation des Sandmanns wie eine literaturwissenschaftliche Spezialdisziplin anmutet, an der Vertreter aller methodischen Richtungen teilhaben.“ – hat man es dann tatsächlich nur mit leichter Unterhaltungsliteratur zu tun?

Dabei ist Fantasy die letzte Bastion der Literatur in der die Lager noch klar verteilt sind. Die guten Cowboys haben weiße Hüte, die bösen Cowboys haben schwarze Hüte – oder Umhänge in Fall der Fantasy. Eine heile Welt, eine schöne Welt. Eine Welt, in die man sich als Leser gerne flüchtet. Da gibt es die Helden: mystische Kreaturen, deren Schicksal meist schon bei der Geburt bestimmt wurde, deren besondere Fähigkeiten, Mut und Stärke sie jedes Hindernis überwinden lassen. Es gibt die feste Regel, dass es immer einen Helden in der Welt gibt. Einer der alles wieder gerade rückt. Trifft man ihn persönlich, so hat er vielleicht einige kleine charakterliche Schwächen, aber nichts, was über Trunkenheit am Zügel oder mangelndes Verantwortungsbewusstsein für die elterlichen Staatsgeschäfte hinausgeht. Helden sind zur richtigen Zeit am richtigen Ort, in seltenen Fällen auch mal zur falschen Zeit am falschen Ort, aber letztendlich erfüllen sie ihren Auftrag: Sie retten die Welt.

Die andere feste Größe der Fantasy ist der Antagonist des Helden, der Bösewicht. Diese tendieren zu grüner Haut, Zahnproblemen und verständigen sich mit Grunzlauten. Oder sie leben sozial isoliert in einem Turm, der für eventuelle Besucher bereits mit dem leuchtenden Warnzeichen „Achtung, böser Zauberer.“ ausgestattet ist. Letztere sind im Allgemeinen sehr alt, so dass man sich fragt, warum sie ausgerechnet einen Turm mit unendlich vielen Stufen als Bastion ihrer Macht auswählen, anstatt ihre finsteren Rituale ebenerdig zu vollziehen.
Zwischen diesen Gegensätzen entwickelt sich die Handlung, angereichert durch Nebenpersonen wie Drachen, Prophezeiungen, Einhörner und Jungfrauen. Die Jungfrau ist in diesem Setting die vielschichtigste Figur des Fantasyromans, da sie umfassend einsetzbar ist: Als Opfer auf dem Altar des bösen Zauberer, Lohn für den Helden, talentierte Jungheldin, Einhorn-Scout oder Drachenberuhiger. Die Emanzipation hat die fantastische Welt noch nicht erreicht, da männlichen Jungfrauen keine besondere Wertschätzung entgegengebracht wird.

Jahrzehnte ruhte die Fantasy auf diesen Pfeilern, die von Tolkien, Howard oder Leiber errichtet wurden. Alle folgenden Autoren orientierten sich an diesen ungeschriebenen Gesetzen des ewigen Dualismus. Die Stimmung der Romane wurde über die Jahre hinweg zwar auch düsterer, die Gewalt direkter und irgendwann durften die Helden auch Sex haben, aber der Dualismus Held - Bösewicht blieb unverrückbar. Die Charaktere Michael Moorcocks sind tragische Helden, die getrieben sind von einem dunklen Makel, aber auch der drogensüchtige Elric mit seinem Schwert, das Seelen verschlingt, ist letztendlich ein Held, der seine Aufgabe in der Welt erfüllt.

Aus dieser Stasis des ewigen Kampfes Gut gegen Böses verhalf der Fantasy etwas, was man dort nicht vermuten würde: Der Realismus.

Autoren wie George R.R. Martin oder Tad Williams orientierten sich an der Historie, die Helden von einst waren nicht mehr so offensichtlich zu erkennen und wurden vielschichtiger. Wie in der Realität gab es nicht mehr nur eine Seite der Geschichte. Es gab drei: Die der Helden, die der Bösen und die Wahrheit. Der strahlende Ritter war nur auf den ersten Blick strahlend, auf den zweiten war er ein auf seinen Vorteil bedachter Egoist, der sich in Szene setzte. Aus dem trunksüchtigen und egoistischen Krüppel wurde ein sympathischer Protagonist, um dessen Leben man sich sorgte. Die Helden wurden realistischer – sie wurden menschlicher, blieben aber dennoch Helden. Man fiebert für die Guten, auch wenn sie nicht immer gut waren. Ihre letztendliche Aufgabe ist klar erkennbar, auch wenn es plötzliche Wendungen in der Handlung gibt. Der tiefere Grund für ihr Handeln, wie sie sich selber wahrnehmen und ihre Taten rechtfertigen, blieb weiterhin ein Geheimnis für den Leser. Joe Abercrombie geht den letzten Schritt und blickt hinter den Vorhang, lüftet das Geheimnis für den Leser.

Was treibt den dunklen Herrscher an? Macht er sich Gedanken über die unterworfenen Reiche? Die brennenden Bauernhöfe? Warum wird ein Mensch zum Folterknecht? Ist er einfach nur ungebildet und weiß es nicht besser? Denkt er über seine Opfer nach? Joe Abercrombie gibt in seinen Romanen Antwort auf diese Fragen, denn er blickt durch die Augen seiner Charaktere und lässt den Leser an ihren Gedanken teilhaben. Sein Folterknecht Glokta ist sich sehr bewusst, was er tut und bei weitem auch nicht ungebildet – ganz im Gegenteil. Glokta stellt sich ständig die Frage, warum er foltert und Unheil in die Welt bringt, findet dafür nie eine befriedigende Antwort, außer: Pragmatismus, es ist das was er kann und was ihn, als ehemals Gefolterten, gezeichnet hat. Eine Erkenntnis, die so einfach, wie erschütternd ist und die man ohne Zweifel auch heute als Antwort von einem Folterknecht bekommen würde. Allgemeiner bekäme man diese Antwort von Menschen überall auf der Welt: Ja, ich weiß es besser, aber ich mache nichts dagegen; weil es so bequemer ist, weil ich es gewohnt bin.
Die Figuren in Abercrombies Büchern sind Helden, Opfer und Bösewichter zu gleich – je nachdem wer gerade ihre Geschichte erzählt. Das macht sie realistisch und greifbar, sie sind nicht überhöhte Ideale einer besseren Welt, sondern Menschen, die man selber kennen könnte. Eine willkommene Abwechslung im ewigen Kampf Gut gegen Böse der Fantasy. Dabei nutzt er eine Sprache die zugänglich ist, sich nicht in seitenlangen Gedichten und Epen als Zwischenspiel verliert, um der Welt eine künstliche Tiefe zu geben. Seine Welt ist vielschichtig, weil sie echt ist - von vielen Ereignissen getrieben, verworren und gegensätzlich. Die Annahmen und Erwartungen, die der Leser an die Geschichte hat, werden von Abercrombie nicht nur verdreht, sondern bis auf die Grundfeste niedergebrannt. In seiner komplexen Welt gibt es keine einfache Antworten und keine Helden, die die Erlösung bringen.

„Every man has his excuses, and the more vile the man becomes, the more touching the story has to be. What is my story now, I wonder?“ sagt Glokta in „The Blade itself“ und liefert damit auch die Begründung, warum uns diese Geschichten zu gleich fesseln und erschüttern.

Der schwäbische Lindwurm 2015 geht an Joe Abercrombie, der die Helden zerstört und sie zu dem gemacht hat, was sie eigentlich sind: Menschen, die sich mit ihrer Geschichte und Fehlern einer Aufgabe stellen.

 

Donnerstag, 18. Juni 2015 | 20 Uhr | Literaturhaus Stuttgart, Großer Saal
Preisverleihung, Lesung, Gespräch, Signiertermin
mit Joe Abercrombie, Alex Jahnke (Lautatio), Götz Schneyder (Lesung), Björn Springorum (Moderation)

Karten für die Preisverleihung gibt es hier

Links:
www.joeabercrombie.com

Joe Abercrombie – "Kriegsklingen"