Klingenmaier und die Fantastik

Thomas Klingenmaier ist Redakteur der Stuttgarter Zeitung und Fantastik-Experte. Am Freitagabend, 19. Juni, wird er im Rahmen der Dragon Days die Lesung "Klassiker der Stuttgarter Fantastik" halten. 

Ein Versprechen auf mehr, auf Unendlichkeit


Gekommen ist die Fantastik zu Thomas Klingenmaier schon durch Märchen im Kindesalter. Aber warum ist sie in seinem Leben geblieben, die Begeisterung für die Fantastik nie abgeebbt? Vielleicht, weil er ein Kindskopf und in einer kindlichen Entwicklungsphase verharrt ist? Mag sein. Vielleicht aber auch, weil es ihn fasziniert hat, dass er in der fantastischen Literatur etwas lesen konnte, in utopischen Filmen eine Welt sehen konnte, die man so in der Realität nie würde erfahren können,„nicht im Zoo, nicht auf Reisen, nirgends!“ Die Fantastik versprach mehr, versprach Unendlichkeit. Er beschreibt es als „eine Tür in einen Garten, der zwar zu unserer Welt gehört, in dem aber Unwirklichkeit herrscht“. Doch nicht nur das fasziniert ihn. Dass fantastische Vorstellungswelten genutzt wurden, um Dinge zu beschreiben, die man sich wissenschaftlich noch nicht erklären konnte, war ein weiterer Faktor, der Klingenmaiers Fantastik-Begeisterung weiter vorantrieb. Und nicht zuletzt das „Preview-Erlebnis“, in der Science Fiction Szene über Dinge zu lesen, die eine Vorschau auf die Zukunft, auf das was er noch erleben würde, waren, zog ihn magisch an.

 


Und was bedeutet es für den Experten, wenn etwas „fantastisch“ ist?


„Fantastik sind Fiktionen, in denen es Elemente gibt, die kongruent sind mit unseren Erfahrungen im Alltag und mit dem, was uns die Naturwissenschaften vermitteln. Das kann von milden Abweichungen bis hin zum Versuch des totalen Regelumsturzes gehen.“ Innerhalb dieses Genres gäbe es dann ganz viele unterschiedliche Subszenen, die nicht immer etwas miteinander zu tun haben wollen, die jedoch immer ein gemeinsamer roter Faden durchzieht: Der Wille zur Abweichung vom Rationalen und für uns nicht in dieser Form Erlebbaren.

 


Stuttgart: ein auffälliger Ort auf der Fantastik-Landkarte


Dass das crossmediale Fantastik-Festival, die Dragon Days, gerade in Stuttgart stattfindet, habe viel mit Zufälligkeiten zu tun. Zum einen finde das Festival natürlich hier statt, weil Tobias Wengert hier sei. Der habe die Chance und Notwendigkeit gesehen und erkannt. Aber möglich werde es nur, weil Stuttgart, wenn es so etwas wie eine Fantastik-Landkarte hier in Deutschland gibt, ein sehr auffälliger Ort sei.
Zum einen gibt es hier den Klett-Cotta-Verlag, den Rolls Royce unter den Fantasy-Verlagen: „vielleicht ein bisschen altmodisch, aber trotzdem absolut bewundernswert“. Mit Maßstab setzenden Klassikern wie Tolkiens „Herr der Ringe“ und allem was damit zusammenhängt, habe der Verlag in gewisser Weise das Alte und Neue Testament der Fantasy verlegt.
Aber die Region Stuttgart ist schon lange viel mehr als ein reiner Verlagsstandort. Neben Comiczeichnern und -verlagen gibt es hier auch weltweit angesehene Ausbildungsstätten für Filmhandwerk, Special Effects und Animationen wie die Hochschule der Medien Stuttgart oder die Filmakademie Ludwigsburg. Auch das Fraunhofer Institut in Stuttgart Vaihingen forscht viel im 3D-Bereich. Und wir stehen erst am Anfang dieser Entwicklung: „Spiele fangen an, aus ihren Geräten herauszutreten, es entsteht eine Virtual Reality mit erweiterten Interaktions- und Vernetzungsmöglichkeiten“. Mit den Dragon Days will man die Fantastik transmedial, quer durch alle Medien, bis hin zum LARP (Live Action Role Playing) verfolgen und damit mehr sein als ein Literaturfestival.

 

90% von allem ist die reinste Scheiße


Fantasy ist doch gar keine richtige Literatur, so ein weit verbreitetes Vorurteil. „Da müsste man erstmal definieren, was denn überhaupt richtige Literatur ist. Es gibt keinen Maßstab dafür, was gute und was schlechte Literatur ist.“ Ganz nach dem „Sturgeons Law“, das viele Fantastik-Liebhaber als Rechtfertigung anwenden: „90 Prozent der Science Fiction ist die reinste Scheiße, ja, aber 90 Prozent von allem ist die reinste Scheiße!“ Diesen Satz erwiderte der US-amerikanische Science-Fiction-, Fantasy- und Horrorliteratur-Autor Theodor Sturgeon auf die Frage, warum er denn ausgerechnet Fantasy schreibe, dass sei doch alles totaler Mist.
Fakt ist, dass sich die Fantastik in den vergangenen Jahren zu einem dynamischen Bereich in unserem Kulturleben entwickelt hat. Und wer sich darauf einlässt, kann in andere Welten eintauchen.  Bewusstseinserweiternde, aber auch erschreckende Welten. Und warum sollte es denn nicht erlaubt sein, in eine Parallelwelt zu flüchten? „Gibt es eine Pflicht, hier zu bleiben? Vielleicht will der Eskapist einfach nur raus in die andere Welt, um Kraft zu tanken, sich zu erholen.“ Wenn es Menschen dadurch besser geht, dass sie mit Fantasy für eine bestimmte Zeit in eine bestimmte Welt fliehen können, dann ist das doch eine gute Sache oder?

 


Mit einem Kuss zum Leben erwecken


Warum Klingenmaier am Freitag, 19. Juni, den Vortrag „Klassiker der Stuttgarter Fantastik“ in der Osiander Buchhandlung in der Nadlerstraße hält? Dass man sich an ältere Literatur immer weniger herantraut, ist schon lange Realität. „Vermeintliche Bedeutungsschwere, abgehobene Ideale, die alte Sprache – das sind einfach Zugangshürden.“ Da sei es ihm ein Anliegen, mit seiner journalistischen Arbeit, aber auch im Privaten, den Menschen diese Schwellen- und Berührungsängste zu nehmen. Man sollte auch an Fantasy und alte, klassische Literatur herangehen, wie an ein neues Buch, das beim Buchhändler ausliegt: In die Hand nehmen, durchblättern und wenn es einen anspricht, einfach ausprobieren. „Literatur will, wie alles andere auch, mit einem Kuss zum Leben erweckt werden. Das Erlebnis wartet in einem Glassarg auf uns!“


Thomas Klingenmaier @ Dragon Days 2015
19. Juni | 19.30 Uhr | Osiander Nadlerstraße
Eintritt frei


Desirée Fehringer & Wiebke Wetschera