Total-AR Interview mit Benjamin Rudolph

Als Tad Williams 1994 mit seinen OTHERLAND Romanen begann, war einer der Gründe die Bücher zu schreiben, dass es damals die Technologie für diese virtuelle Welt noch nicht gab. Um einen Vorgeschmack auf zukünftige Realitätserfahrungen zu geben, wird Benjamin Rudolph bei den Dragon Days sein Total-AR Projekt vorstellen. Worum es dabei geht, erzählt er im Interview.

 

Was ist Augmented Reality?

Es bedeutet die Realität durch virtuelle Inhalte erweitert wahrzunehmen. Obwohl akustische und haptische Reize ebenso gemeint sein können, interessieren sich die meisten für eine visuelle Erweiterung wie der Sichtweise des Terminators oder der Kontaktlinse aus Mission Impossible. Wenn man allerdings den Philosophie-Studenten in mir fragt, erscheint es diesem als etwas viel größeres und wie die logische Konsequenz aus unserer bisherigen technischen und kulturellen Entwicklung. Die nächste Evolutionsstufe im Verhältnis zwischen Mensch und Medium. Der uralte Traum unsere Phantasien erleben zu können, lief über Bilder und Bücher zu immer realitätsnaheren Darstellungen. Charaktere im Theater waren ja ganz echt, aber eine zauberhafte Reise zum Mond, benötigte dann eben doch irgendwann die Möglichkeiten des Kinos. Dann hatte plötzlich jeder einen Fernseher und kurz darauf konnte man interaktiv in den Phantasiewelten spielen, später sogar ohne Controller und rein durch Bewegung. Dann wurden die Geräte kleiner und kleiner und heute stehen wir da mit Bildschirmen die immer dünner und dünner werden. Demnächst wird sich diese kleine trennende Scheibe zwischen uns und der Phantasie vollends auflösen und es hat mir eine große Freude gemacht mit meinem Projekt einen weiteren großen Riss in dieser Scheibe zu verursachen. Denn wenn man bisherige AR-Applikationen betrachtet erschleicht einen das Gefühl AR sei nur die Motivation von Marketing-Menschen die hoffen, dass in Zukunft Werbe-Pop-Ups direkt in der Fußgängerzone erscheinen. Es gibt noch wenige Applikationen, die wirklich Sinn ergeben. Aber wie mit dem Internet der 90er schreitet erst einmal die Technik voran und wird dann von ganz alleine ihre wirkliche Bestimmung finden.

 

Was ist der Unterschied von TOTAL AR zu gewöhnlicher AR?

Es war nicht unser Fokus ein marktfähiges Produkt zu entwickeln, sondern prototypisch erfahrbar zu machen wie es sich in drei oder sechs Jahren anfühlen wird, wenn die Verschmelzung der Welten weiter voranschreitet. Wir zeigen nicht einfach virtuelle Objekte in einem realen Raum. Es ist wichtig, dass sich die virtuellen Objekte dem realen Raum in dem sie stehen bewusst sind. Wir versuchen, so weit möglich, zu simulieren, dass die virtuellen Objekte und Charaktere auf echte Gegenstände reagieren und sich z.B hinter diesen verstecken können. Der Nutzer hat auch kein iPad oder sonstiges Device in der Hand. Er erlebt alle Ereignisse direkt durch unsere Brille aus seinem natürlichen Sichtfeld. Im Gegensatz zu momentanem AR, welches hauptsächlich als Werkzeug dient um Netzinhalte in die Realität zu koppeln, hat TOTAL-AR seinen Fokus also auf dem persönlichen inhaltlichen Erlebnis.

 

Was hat Dich dazu inspiriert das Projekt zu entwickeln?

Eigentlich war ich gerade dabei eine Geschichte über Paranoia zu entwickeln, besuchte dann aber eine Theatergruppe, die ein altes Industriegebäude bespielte. Es gab dabei keine klare Bühne und man konnte sich frei in der Geschichte bewegen. Die Atmosphäre war der Hammer, aber die Geschichte nicht gerade spannend. Deshalb stellte ich mir statt dessen einfach einen Angriff vom Kampfrobotern vor. Man sagt doch Realität habe die beste Grafik, sei aber ein lausiges Spiel. Also dachte ich, dass es viel Arbeit spart, wenn die Realität die Umgebungsgrafik macht und wir nur noch die zur Geschichte fehlenden Elemente hinzuzufügen haben. Ich machte zuhause erste kleine Tests, war davon überzeugt und begann ein Team für das Projekt zu finden.

 

Du hast das TOTAL AR Head-Mounted Display selbst gebaut. Woraus und was musstest Du dabei beachten?

Letztendlich ist es nur ein Kombination aus einer uralten Videobrille, die wir in eine Skibrille gesetzt haben, damit sie das weitere Gewicht von zwei kleinen Webcams tragen kann, ohne vom Gesicht zu rutschen. Jeder kann sich eine solche Brille bauen, ohne dabei mehr als 300€ investieren zu müssen. Allerdings sollte man nicht unterschätzen, dass ein robuster Aufbau und ein dabei gleichzeitig möglichst geringes Gewicht, ihren Teufel im Detail haben. Ebenso verhält es sich auf der Software-Seite, wo sich zwar alle Code-Bausteine für nichtkommerzielle Zwecke herunterladen lassen, aber spätestens beim Kompilieren dann jeder versteht, warum wir mit dem Slogan "Are you Nerd enough?"zur Mitarbeit auffordern.

 

Auf der Projektwebsite total-ar.com rufst Du Programmierer dazu auf Software für Total AR zu entwickeln. Wer kann dabei mitmachen und was stellst Du dafür zur Verfügung?

An sich kann jeder mitmachen und es für wenig Geld nach grober Anleitung selbst bauen. Bis jetzt geht es aber immer noch darum erst einmal einer breiten Masse aufzuzeigen, dass TOTAL-AR heute schon möglich ist. Ich erkläre zwar immer wieder, wie man es nachbauen kann, aber wirklich effektiv wird es erst in einer strukturierten Community. Leider findet man einen engagierten Fan erst, wenn hundert andere zuvor darüber geredet haben. Deshalb vernetze ich mich momentan weltweit und freue mich über jeden Abonnenten unserer Facebook Seite. Mit etwas Glück könnten wir bis zum nächsten Jahr genug wachsen um die Technik auf ein Level zu bringen, welches jedermann einen schnellen Einstieg ermöglicht. Dann wäre es möglich selbst entwickelte Inhalte untereinander auszutauschen.


Wie könnte AR in Zukunft eingesetzt werden?

Die Vision, dass bald alle mit AR-Brillen herumlaufen um das Internet eingebettet in unseren Alltag zu sehen, könnte sich sehr schnell als Trugschluss erweisen. Virtuelle Objekte werden zwar besser mit der Realität verknüpft sein, aber ein Wikipedia Artikel muss deshalb nicht gleich über dem zugehörigen Denkmal schweben. Wir werden aber relativ sicher vor Spiegeln stehen die uns erlauben, virtuelle Kleider per cover flow vorab anzuprobieren. Auch Autoscheiben werden dezent eingebettet die Route und relevante Punkte der Umgebung zeigen können. Wichtig ist jedoch, dass sich TOTAL-AR unabhängig von diesem AR-Massenmarkt langsam zu einem eigenen Medium entwickeln kann. Dies geschieht Stück für Stück über den Einsatz in Forschung und Ingenieur-Büros und dann durch die Nutzung für Pädagogik, Militär und Erotik-Industrie. Wenn wir es richtig machen, kommt möglichst früh hinzu , dass wir Videospiele in einer neu erwachenden Arkadehallen-Kultur mit Freunden erleben können. Wer weiß das schon? Meine Toilettenlektüre besteht aus Computerzeitschriften der 90er Jahre und ich finde in darin auch kein Wort über all das, was heute wirklich zählt. Aber um die Ausmaße zu verstehen, lese ich immer sehr gerne den Artikel über die neue Digital-Kamera, die 30 Bilder speichern kann und 1.400 DM kostet.

Lesung, Gespräch, Total AR Präsentation
OTHERLAND
mit Tad Williams, Benjamin Rudolph, u.a.
Donnerstag, 11. Juli 2013, 20.00 Uhr
Ort: Großer Saal

Link zur Website: www.total-ar.com